„Begegnest Du der Einsamkeit – hab´ keine Angst! Sie ist eine kostbare Hilfe, mit Dir selbst Freundschaft zu schließen!“ Tibetisches Sprichwort
Was drehte sich denn um sie selbst?
War es nicht vielmehr genauso wie in ihrer Kindheit? Die meiste Zeit drehte sich alles um alle anderen in der Familie und sobald sie etwas für sich selbst tat, wurde ihr das als egoistisch vorgehalten.
Sie hatte nicht das Gefühl gehabt, daß es sich um sie – Konstanze – drehte, als man ihr großzügig das Studium finanzierte. Dies galt ohnehin nur mit der stillschweigenden Auflage, daß sie dabei die beruflichen Wünsche der Eltern erfüllte und etwas entsprechend „angemessenes und angesehenes“ studierte. Wie zum Beispiel Ärztin oder Rechtsanwältin, ganz in den Fußstapfen der Eltern. Eine Familie war natürlich auch anerkannt. Und für die gute Bildung und die Erziehung der Kinder war es auch anerkannt, daß man nie in dem studierten Beruf arbeitete. Aber als Tochter der „von Sieberdings“ nicht zu studieren, das ging natürlich nicht. Da war es schnell vorbei mit der gut gemeinten Unterstützung. Statt dessen wurde mit dem Entzug aller bis dahin wohl gepflegten Bequemlichkeiten gedroht. Oder wäre „Abhängigkeiten“ das passendere Wort? Tatsächlich hatte sie sich „in Abhängigkeit“ gefühlt – unfähig sich selbst aus dem sicheren Nest heraus zu schuppsen, um alleine unbekannte, riskantere Wege zu gehen. Auch das kam ihr vertraut vor. Würde sie sich vorstellen können, jetzt alleine bzw. alleine mit den Kindern ihren eigenen Weg zu gehen? Nicht, dass sie es müsste…. ihre Ehe war ja in Ordnung. Doch sie war in genau dieser gefühlten Abhängigkeit, bei der ihr regelmäßig ihr Selbstrespekt verloren ging und sie tiefe Selbstzweifel erfassten. Sie wüsste gar nicht, wie sie ihr Leben alleine meistern würde… und hatte darin auch keine Erfahrung…. und soo im Verzicht wollte sie sich freiwillig dann doch nicht üben…
Was konnte sie denn schon? Klar hatte sie ein Studium. Ihr Diplom konnte sie sich mittlerweile allerdings an die Wand tapezieren. Sie hatte 2 Kinder und wurde mit jedem Jahr damit konfrontiert, daß sie immer weniger benötigt wurde. Noch war es zwar nicht soweit, aber bald – wenn sie immer noch jung wäre und alle anderen Frauen bereits bestens beruflich etabliert waren – dann würde sie diese Lücke füllen müssen. Oder nicht? Weiterhin brav zu Hause sitzen – hoffend, daß einem der Mann nicht verlässt und auch in Zukunft bestens alle versorgen würde? …..Kaffee trinken, Freundinnen treffen… den ganzen Tag? Hm, so richtig erfüllend war dieses Ergebnis ihrer Überlegungen nicht. Das konnte es also auch nicht sein, worum es sich drehte, wenn es sich nun schon mal um sie drehen durfte…
Erneut wechselte Sie ihre Liebeposition auf die andere Seite, in der Hoffnung nun endlich den erlösenden Schlaf zu finden. Sie lag nun dicht neben Andreas, der gleichmäßig atmend tief und fest schlief. Sie konnte seinen Brustkorb sich heben und senken spüren.
Wann genau drehte es sich um sie? Die Frage bohrte sich immer heftiger in ihren Kopf. Wie war es denn in ihrer Beziehung? Beim Sex? Ob oder wann sie Lust hatte, schien Andreas auch nicht sonderlich zu interessieren. Zugegeben kam das auch kaum vor, wenn die Kinder da waren, Andreas erschöpft am Abend zu Hause angekommen war und sich da nicht gerade als „Quell der Sinnlichkeit“ entpuppte. Wenn sie überhaupt Lust verspürte, dann vorwiegend in den Momenten, in denen ihr Mann – wie so oft – mit Geldverdienen für all den erworbenen und noch zu erwerbenden Reichtum außer Haus beschäftigt war. Wahrscheinlich war es auch egal, ob sie Lust hatte, grübelte sie finster weiter. Daß man ab und zu miteinander schläft, gehörte vielleicht einfach zum „Vertrag“. Und sie wollte ihm ja auch gerne etwas zurück geben, für all das, was er für sie und die Familie erschaffte. Sie liebte ihn. Nur sichtbar und fühlbar war das vielleicht nicht so ganz offensichtlich im Alltag. Für Zärtlichkeit, Harmonie oder gar Erotik war im ganz normalen Alltag auch gar kein Platz. Und so war auch die Liebe… eher ein Gefühl von Gewohnheit. In letzter Zeit hatte sie sich schon oft bewusst dabei ertappt, das „für ihn“ zu tun. Immer dann, wenn ihr schlechtes Gewissen ihm gegenüber zu groß wurde. Sie handelte auch dabei nicht aus ihrer Lust, sondern wie so oft aus ihrem schlechten Gewissen oder dem Gefühl „etwas schuldig zu sein“. Ein erfülltes Sexualleben jedenfalls würde sie sich doch deutlich anders vorstellen können!
Je länger sie grübelte, umso erschreckender war ihre Selbsterkenntnis: sie war noch immer die angepasste, liebe Konstanze, die stets versuchte all das zu erfüllen, was alle anderen von ihr erwarten. Und die sogar dabei regelmäßigst scheiterte. Erst jetzt fiel ihr auf, daß sie sich schon lange nicht mehr damit beschäftigt hatte, was sie selbst eigentlich wirklich wollte, was sie begeisterte, erfüllte, bewegte… was sie konnte und wirklich zu geben hatte. Tränen rollten auf das frisch bezogene Bett und sie trocknete ihre Wangen schnell mit ihrem Handrücken. Andreas Brustkorb hob und senkte sich in unverändertem Rhythmus.
Ihre Eltern hatten sie nie in dem gefördert, was sie wirklich machen wollte. Sie hatten sich nie dafür interessiert oder ihre Interessen vorschnell einfach als „Spinnereien“ abgetan. Natürlich ohne jede böse Absicht und nur zu ihrem Besten. Daß ihre Tochter nicht als Juristin erfolgreich würde, sondern vielleicht als talentierte Künstlerin oder Modedesignerin, lag aufgrund der eigenen Erziehung und des eigenen, sicher genauso angepassten und sicherheitsorientierten Lebensweges, außerhalb deren Vorstellung!
Still versanken Tränen im noch frisch nach Lavendelwaschpulver duftendem Kissen. Sie fand sich selbst bemitleidenswert…. und klein…. zu fühlen, wie sehr ihr die Anerkennung fehlte, nicht nur beruflich, sondern vor allem als Frau und genauso einfach als der Mensch, der sie wirklich war…
Sie hatte das Gefühl und vor allem die Angst, daß all das, was tief in ihr lag und gelebt werden wollte, auf ihrem bisherigen Weg, mit ihrem unbedingten Wunsch anderen zu gefallen und von allen geliebt zu werden, verloren gegangen sein könnte…
Sie lag noch lange wach in dieser Nacht. Sich zum ersten mal ehrlich eingestehend, daß ihre `Dankbarkeit´ keine echte Dankbarkeit war. Sie kannte das Gefühl von Herzen dankbar zu sein. Und das war etwas ganz anderes als `sich zufrieden zu geben´. Auch wenn das Ergebnis tiefer Dankbarkeit ist, daß man im Frieden mit sich ist. Trotz allem was sie hatte: an diesem Ort war sie jetzt einfach nicht.
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