Es war typisch für Judith, daß sie die Dinge gleich anpackte und erledigte, was zu erledigen war. So hatte sie ohne bewusst darüber nachzudenken am nächsten Morgen gleich einen Block mit in die Küche genommen und in großen Buchstaben „Meine Dankes-Liste“ auf die erste Seite geschrieben. In der Zeile darunter stand etwas kleiner und unterstrichen „Ich bin dankbar für:“.
Gleich nachdem sie den Kindern das Frühstück serviert hatte, notierte sie in der ersten Zeile „1.  Meine Kinder“ und gleich darunter „2. Meinen Mann Stefan“. Dann kochte sie für sich beide wie jeden Morgen den Kaffee. Und wie jeden Morgen war Stefan ganz in seiner Zeitung versunken. Mit einem Blick zum Küchentisch, an dem ihre drei Liebsten saßen notierte sie weiter „3. Dafür, daß wir alle gesund sind und es uns gut geht“, „4. meine Arbeit, die mir ein gutes Einkommen und die Flexibilität einer 25-Stunden-Woche ermöglicht“, „5. daß ich Zeit für meine Kinder habe“, „6. dass Stefan einen guten Job hat und gut verdient“. Dann widmete sie sich erst mal dem Aufschäumen der Milch. Ein tägliches Ritual, das ihr wichtig war. Sie liebte den frischen Duft des Kaffees am Morgen und zog täglich neue Kreise und Symbole in die frisch aufgeschäumte Milch. Gleich wie sehr sie auch mal in Eile war – für ihren Kaffee am Morgen nahm sich immer noch die Zeit.
Lena und Lars waren wie immer in Windeseile mit ihrem Frühstück fertig und schon dabei sich für den Schulweg anzuziehen . Judith brachte Stefan seinen Kaffee an den Tisch und den Kindern die Pausenbrote. Schnell verabschiedeten sich die beiden mit einem Kuss von Judith und Stefan und waren verschwunden. Judith setzte sich genüsslich mit ihrem Kaffe an den Küchentisch dazu, schaute aus dem Fenster und schrieb all das auf, was ihr spontan einfiel „7. Daß die Kinder gut in der Schule mitkommen und keine Probleme haben;   8. Meine Freunde“ und ergänzte sogleich „unsere Freunde“, „ 10. daß ich Zeit für meine Hobbies habe und regelmäßig Sport machen kann“ Dabei fiel ihr ein, daß sie schon einige Zeit gar keinen Sport mehr gemacht hatte und notierte sich dies gleich auf der nächsten Blockseite „Zeit für Sport einteilen!!!“. Dann setzte sie ihre Dankes-Liste fort „11. daß wir uns ein schönes Haus mit ausreichend Platz für alle leisten können“. An diesem Punkt überlegte sie kurz, denn „leisten“ war relativ. Das Haus war finanziert und gehörte genau genommen der Bank, die Zinsbelastung war immens und die Tilgung relativ gering. Insofern würde es noch viele Jahre dauern, bis das Haus abbezahlt wäre und wirklich ihnen gehören würde… Wenn sie bis dahin überhaupt noch alle hier wohnen würden.
„Was machst Du da eigentlich?“, fragte Stefan, gerade mit seiner Zeitung fertig und sichtlich verwundert über Judiths Verhalten. Im Normalfalle wäre sie schon längst mit dem Abräumen des Küchentischs fertig und auf dem Weg zur Arbeit, anstatt hier am Küchentisch zu sinnieren und zu schreiben.
„Ich schreibe eine Dankes-Liste“, erklärte Judith kurz und knapp.
„Aha“ bemerkte Stefan mit in sein Gesicht geschriebenem Fragezeichen. 
„Und wozu?“
„Hm. Einfach so“ entgegnete Judith achselzuckend. Fügte jedoch sogleich klärend hinzu „Das war eine Erkenntnis aus unserem Gespräch gestern, daß Dankbarkeit das beste Fundament für jede weitere Entwicklung ist. Und damit wollten wir uns alle jetzt einmal bewusst beschäftigen.“
„Aha“ kam es von Stefan, der nun zwar im Bilde war, jedoch kein tiefer gehendes Interesse signalisierte. In Gedanken bereitete er sich auf seinen Arbeitstag vor und war geistig bereits in seinem Büro.
„Vielleicht sollten wir das zusammen machen?!“ kam es Judith spontan in den Sinn, während sie sich nun doch daran machte den Küchentisch abzuräumen. „Immerhin kommst Du ja auch auf meiner Dankes-Liste vor!“
„Was?… ach so… ja ja. Können wir machen“ antwortet Stefan geistesabwesend.
Judith schmunzelte und ging zu ihrem Mann, um ihm einen Kuss auf die Wangen zu drücken „Einen erfolgreichen Tag Dir!“ „Dir auch“ und damit war Stefan auch schon verschwunden.
Während sie ihre Tasche packte, sinnierte sie unweigerlich weiter über ihre Dankesliste. Es fiel ihr leicht, weitere Punkte zu finden. Allerdings fiel ihr auf, daß ihre Familie, ihre Eltern doch erst recht spät vorkamen, obwohl sie ihnen doch im Grunde sehr viel zu verdanken hatte. Ja, sogar ihr Leben! Zum anderen kamen nach und nach auch unliebsame Gedanken dazwischen, die sie schnell verdrängte. Es war ihr unangenehm, sich mit neidvollen Gedanken zu ertappen… darüber, daß es andere leichter zu haben schienen, ihnen vieles in den Schoß fiel, was sie sich doch hart erarbeiten mussten und finanziell oft ins Rechnen kamen. Da hatte es Konstanze zum Beispiel schon wesentlich bequemer… Sie musste sich keine Sorgen machen.           ***