Alex und Joanna hatten es sich gerade wieder in Liegeposition bequem gemacht und hingen, jede für sich ihren Gedanken nach.

Entspannt lies Joanna ihren Blick durch den Garten streifen und nahm so bewusst wie schon lange nicht mehr ihre Umgebung wahr. Die kleinen Gänseblümchen auf der Wiese, den voll erblühten Lavendelstrauch, die Sträucher, die den Garten säumten. Auch den ausgedorrten Bambus, der strohig im Bild des prachtvoll natürlich gewachsenen Grün des Gartens herausstach. Den kraftvollen großen alten Baum in der rechten Ecke des Gartens, der so zufrieden und ruhig wirkte, so vertrauensvoll. Falls es ein Leben nach dem Tod gäbe, würde sie gerne nächstes Mal ein Baum sein. Gerne auch genau dieser Baum, um Menschen diese Ruhe und Kraft zu vermittel und mit frischer Luft zu versorgen. Das kam ihr so leicht vor… so ein Baum musste sich nicht darum kümmern, wofür er bestimmt ist… wohin er gehen, was er tun, wie er sein will…. Er IST einfach da, an dem Ort, an dem er bestimmt ist…

Plötzlich entdeckte sie dahinter einen Zweig mit Misteln der von außerhalb des Grundstücks gerade noch in den Garten ragte. Das war ihr noch nie aufgefallen und gerade in Deutschland etwas selten gesehenes. Die Mistel sitzt in den Wipfeln der Bäume und entfaltet in der winterkahlen Zeit, vor allem zu Weihnachten, ihre graugrünen Kugelbüsche. Wächsern glänzen dann ihre Beeren im mattgründen Laub – im Kontrast zu all den anderen Früchten, die die Sonne und Wärme des Sommers und Herbstes zum Wachstum brauchen. Durch ihre eigenartige Lebensweise und ihren fremdartigen Anblick weicht die Mistel stark von anderen Pflanzen ab und genießt von jeher den Reiz des Besonderen.
Joanna war die Mistel sehr vertraut, kam der Brauch – sich unter einem Mistelzweig zu küssen – aus England, dem Heimatland ihres Großvaters. Er hatte ihr dazu als Kind viel erzählt. Symbolisch verkörpert die Mistel die geistige und göttliche Lebensessenz, das Allheilende und die Unsterblichkeit.
Ihre Früchte sind giftig, doch als Arznei verwendet hoch wirksam, u.a. durch ihre blutungsstillende Wirkung. Von jeher wurde sie gegen Krämpfe, Epilepsie und Hysterie angewandt. Die Mistelblätter beeinflussen den gesamten Drüsenhaushalt des Körpers positiv und fördern den Stoffwechsel. Sie hilft bei Zuckerkrankheit, Kreislauf- und Menstruationsstörungen, beugt Arterienverkalkung und Schlaganfall vor und hilft sogar bei Krebs. So hat man gerade in neuerer Zeit dieses alte Mittel wieder erprobt und erzielte Heilerfolge bei bösartigen Gewächsen.

Mit Kräuterheilkunde kannte sich Joanna noch nicht besonders gut aus, doch sie war fasziniert davon. Sie wollte mehr darüber erfahren und wissen. Meist fehlte ihr dafür – wie für so manch andere Interessen – im Alltag nur einfach die Zeit und Muße.
Joanna war gelernte Krankenschwester. Ein Beruf, der ihr nach der Geburt ihrer Tochter, aufgrund der konstant hohen Anforderungen und des Schichtdienstes, bei relativ geringer Bezahlung irgendwie zu viel wurde. Oft hatte sie darüber mit ihrem Lebensgefährten Andreas gestritten. Denn sie wollte nach der Geburt schnell zurück in ihren Beruf und liebte ihre Arbeit. Allerdings hätte sie sich dafür auch etwas Unterstützung und Verständnis von ihm gewünscht. Doch statt dessen kam es zu immer größeren Streitereien, Missverständnissen und Vorwürfen. Obwohl Joanna selbst spürte, daß sie zu der Zeit ihrem Beruf nicht ganz gewachsen war und immer erschöpfter war, wollte sie gerade in dieser Phase nicht aufgeben und sich ganz in die finanzielle Abhängigkeit begeben. Verheiratet waren sie ohnehin nicht. Dies war zwar auch ihr Wunsch gewesen, jedoch vermisste sie manchmal dann doch dieses Stückchen „mehr“ an Sicherheit oder auch nur „gefühlte“ Sicherheit. Nachdem ihre Partnerschaft schlussendlich in die Brüche gegangen war, war Joanna darauf angewiesen mehr als halbtags zu arbeiten bzw. mehr Geld zu verdienen und wechselte in die Klinik als `Study Nurse´ So hatte sie zumindest geregeltere Arbeitszeiten, was die Betreuung ihrer damals 3-jährigen Tochter vereinfachte oder überhaupt erst ermöglichte. Auch war sie flexibler, weniger körperlich und emotional beansprucht und verdiente unterm Strich sogar etwas besser. Insofern war sie zufrieden. Und auch stolz, wie sie das bisher doch alles ganz gut alleine geregelt und unter einen Hut bekommen hatte. Sie lebte zwar alles andere als im finanziellen Überfluss, aber das war ihr auch nicht so wichtig. Mehr Geld konnte sie ja immer noch verdienen, wenn Jennifer etwas älter wäre und sie noch mehr Freiraum für sich haben würde…
Doch immer, wenn sie in der Natur war, wurde ihr ihre Sehnsucht danach, sich mehr mit den Dingen in der Natur zu beschäftigen, so richtig bewusst. Hier blühte sie auf in der Vielfalt all der kleinen beeindruckenden Wunder um sie herum, der natürlichen Schönheit und beeindruckenden Intelligenz dieser sanften und doch machtvollen Natur, mit all ihren heilsamen Schätze. Ihr Berufsbild „Krankenschwester“ hatte sie deshalb noch nie überzeugt, denn sie sah sich nicht in der Rolle „Kranken“ ihr Leid zu lindern und sie zu versorgen. Sie fühlte sich eher zur „Gesundheitsschwester“ berufen…

Während Joanna ihren Blick durch den Garten schweifen lies, entdeckte sie ein Vogelnest. Fasziniert beobachtet sie die kreischenden Amselbabies, die in rasender Geschwindigkeit von ihrer Mutter mit frischen Regenwürmern versorgt werden. Sie war ganz in dieses Bild versunken und ihre Gedanken wurden still. Bis sie nichts mehr anderes hörte, sah oder wahrnahm. Sie war ganz eins mit der Natur.              

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