„Wer kann das denn jetzt sein?“ wundert sich Alex beim Ertönen der Klingel. Und während sie sich nur langsam aus den Tiefen ihres Liegestuhls aufrappelt, klingelt es auch schon erneut. „Ich will für denjenigen hoffen, daß es sich lohnt….“ droht Alex, nun angesichts ihrer gestörten Ruhe leicht genervt, auf dem Weg zur Haustür.

Kurz darauf erscheint sie erfreut mit ihrer Nachbarin Konstanze und deren Freundin Judith im Garten. Konstanze hatte ihr die geliehene Bohrmaschine und einen Dankeschön-Prosecco gebracht . Die vier waren sich seit einer Geburtstagsfeier von Alex schon seit ein paar Jahren vertraut.
„Ihr macht es richtig und lasst es euch in idyllischer Atmosphäre gut gehen!“ stellt Judith fest und mit Blick auf Joanna „So richtig entspannt schaust Du allerdings nicht aus.“

„Das liegt vielleicht daran, dass Joanna gerade Argumente sammelt, um sich freiwillig aus ihrer Komfortzone heraus zu bewegen!“ wirft Alexandra ein „Ich bewege mich jetzt erst mal in die Küche, um uns mit passenden Gläsern zur Feier des Tages zu versorgen!“ und schon war Alexandra auch wieder von der Bildfläche verschwunden.

Judith und Konstanze schauen sich mit fragenden Blicken an und Joanna setzt zu einer kurzen Erklärung an: „Wir haben nur festgestellt, dass ich mich wohl aus meiner Komfortzone heraus bewegen muss, wenn ich mehr in meinem Leben erreichen will!“

„Da ist sicher was dran. Na ja… das gilt ja für uns alle.“ sagt Judith, während sie es sich auf einem der großen Verandasessel bequem macht, ihr Gesicht gen Sonne streckt und erst einmal tief durchatmet.

„Dass man größere Veränderungen oder gar Umbruchsituationen lieber vermeidet ist aber doch ganz normal – quasi menschlich“ beschwichtigt Konstanze.

 „Natürlich ist es normal, dass wir uns nicht um Umbruchsituationen reißen und grundlegende Veränderungen vorzugsweise vermeiden. Nur vermeidet man mit dieser Vermeidungshaltung nicht nur das, was man vermeiden will. Man lebt in gewisser Weise in der Haltung der Vermeidung!“ erklärt Judith, nun mit geschlossenen Augen ganz in ihr Sonnenbad versunken:

„Sehr weise gesprochen!“ bestärkt Joanna, dankbar ihren eigenen unsortierten Gedanken damit zu entkommen. „Rein theoretisch weiß ich ja auch, dass man durch Konzentration auf das, was man vermeiden will, allenfalls die Chance erhöht, genau das anzuziehen, was man versucht zu vermeiden. Nur…“

„… praktisch!?!“ kommt es gleichzeitig aus beiden Mündern und beide lachen.

„Und so vergeuden wir lieber jeden Tag wertvollste Lebenszeit, in der wir aus tiefem Vertrauen heraus unser Potential entfalten und unsere Träume realisieren könnten!“ fügt Judith dann doch etwas melancholisch hinzu.

„Ich hab mal gelesen, daß wir nur 10% unseres Potentials nutzen. Also nur 10% unserer Gehirnleistung, nur 10% dessen, was wir körperlich zu leisten vermögen und genauso bei unseren Talenten und Fähigkeiten.“

„Hm… das klingt ja schockierend. Und traurig. Aber wenn ich mir mal mich so vorstelle… und das mit Akrobaten oder gar einem Schlangenmenschen vergleiche, dann nutze ich wahrscheinlich noch nicht mal die 10% meiner an sich möglichen körperlichen Fähigkeiten. Mein Sportprogramm hält sich in Grenzen und so liege, sitze oder stehe ich….. und geistig… also die Bilanz fällt auch nicht besser aus…“ stimmt Joanna zu „Also wenn man da mal so drüber nachdenkt…. was demnach an Potential auf der Welt brach liegt und nicht gelebt wird….“

„Na dann:“ eröffnet Konstanze bewusst stimmungsvoll – nicht zuletzt, um das Thema damit auch zu beenden – und verteilt eifrig die Gläser, die Alex gerade auf einem Tablett serviert „Auf das Entfalten Eures Potentials!“

„Was heißt hier `unseres´ Potentials?“ unterbricht Judith sie sofort „Du hast doch auch reichlich davon! Oder etwa nicht?“

„Ich habe praktisch noch gar nicht angefangen, mein Potential zu leben!“ verkündet Konstanze fast feierlich, mit leicht sarkastischem Unterton.
„Aha?!“ bemerkt Judith nun doch etwas überrascht.

 
„Ja! Ich habe seit meinem Studium noch nicht als Juristin gearbeitet! Nur für den Fall, daß das hier vielleicht noch niemandem aufgefallen ist.“ Und mit einem gequälten Lächeln fügt sie etwas leiser hinzu „Und dabei hatte schon  Jura an sich nie etwas mit MEINEM Potential zu tun!“

 „Das war mir so tatsächlich noch gar nicht klar, Konstanze“ gibt Judith nun fast etwas beschämt zu und signalisiert im Blickkontakt, gerne etwas mehr darüber erfahren zu wollen.

„Na ja. In meiner Familie gehört das einfach dazu, zu studieren. Das war schon immer so. Ohne das ist man quasi nur ein halb-vollkommener Mensch. Und obwohl ich zwar schon immer das schwarze Schaf der Familie war, diese Schande dann auch noch über meine Familie zu bringen…  wollte ich allen beteiligten ersparen. Und sobald man sich zu einer der extrem vielfältigen spannenden Auswahlmöglichkeiten – insbesondere jedoch Ärztin oder Juristin – durchgerungen hat, interessiert es ja auch niemanden mehr, ob man je in dem Beruf gearbeitet hat oder noch wird. Da zählt der Schein mehr als jede noch so sinnvolle Ausbildung oder berufliche Betätigung“ prasselt es schmerzlich aus Konstanze heraus  „Na ja. Dies mal nur so für Eure Hochrechnung zum ungenutzten Potential auf der Welt!“ schließt sie kurz und bündig ab, rollt ihre Schultern nach hinten, so als wolle sie Ballast von ihrem Rücken abwerfen und findet abrupt wieder in ihre grazile aufrechte Haltung zurück. Etwas nervös wirken lediglich ihre Hände, die unnötig ihren ohnehin glatt fallenden Rock ausstreifen.